Kurz auf der Berlinale

Ich genieße die Berlinale bevorzugt "kurz". Seit 2008 habe ich alle Kurzfilm des Festivals gesehen, ihre Preisträger beklatscht und interessante Regisseure interviewt. Nun sitze ich 2013 in den ersten Vorführungen des Programms und sage so zu mir selbst:

"Wahnsinn, dass es bei den Shorts immer noch so viel neues zu entdecken gibt."



Eine nackte Frau. Erst denke ich, sie würde sich am ganzen Körper rasieren. Ich brauche eine Weile, um zu begreifen, dass sie mit einem Stift ihre Umrisse an einer Tür abzeichnet. In den letzten Sekunden des Films weiß ich dann auch um das "warum". Ein einzige Kameraeinstellung. Alles ist gesagt.

Ihr Lebensgefährte ist 18, ihre Tochter eigentlich ihre Nichte. Sie versucht sich den Text zu merken, das Stück ihrer Theatergruppe feiert bald Premiere. Geld ist knapp, sie muss ihren Körper verkaufen, den Freiern abstruseste Wünsche erfüllen. Und jetzt stell dir vor, "sie" ist eigentlich ein Transvestit und lebt in Belgrad.

Schlagzeuger und Gitarrist suchen nach perfekter Harmonie in einer Tour de Force der Klänge. Zum Sprechen brauchen sie nur ihre Augen und Finger. Zwischenzeitlich hege ich den Verdacht, zumindest einer von beiden sei tatsächlich stumm. So intensiv und verbissen die Proben, so erlösend die wahre Klangexplosion beim Auftritt mit hautnah-rundum-Publikum.

Wie sähe eigentlich ein Film für Schimpansen aus? Ein Film über Schimpansen-Bedürfnisse und mit Schimpansen als Protagonisten. Und wie wäre es, diesen Film dann auch wirklich Schimpansen zu zeigen? Auf diese Idee wäre ich nie im Leben selber gekommen. Jetzt weiß ich aber, wie so etwas in der Realität aussieht.

Die fast perfekte Frau. Sie spricht zu ihm, obwohl sie es nicht kann. Sagt er uns. Den Burnout hat er besiegt, sogar irgendwie wieder ins Leben zurückgefunden. Sagt er uns, während er mit einer lebensgroßen Latexpuppe im Arm Fernsehen schaut.

Reizüberflutung, die ihre Epilepsiewarnung im Programmheft redlich verdient hat. Es flackert bunt und da ist wieder eine nackte Frau. Block 2 der Berlinale Shorts endet mit dem Hauptmotiv seines ersten Films, auch wenn die animierte Effekthypnose auf den ersten Blick kaum etwas mit dem ruhig gefilmten Kammerspiel vom Anfang zu tun hat. Und auf den zweiten Blick dann doch alles.

Nein, dieser Blog-Eintrag ist mitnichten eine in die Tiefe gehende Reflektion der einzelnen Kurzfilme. Schließlich soll der Leser das Programm nach Möglichkeit selber schauen, es im Kino erleben und seine eigenen Gedanken flechten, seine eigenen Überraschungen erleben. Ich möchte ihn auf den Geschmack bringen. Den Geschmack der Ideenvielfalt, der unvergleichlichen Variation mutiger Beiträge des kurzen Films auf der Berlinale. Filmliebende, Neugierige, Erlebnishungrige, Kunstliebende, Nachdenkliche, Lebensbejahende,... aller Formen und Farben. Kommt vorbei, es ist für jeden etwas dabei. Und selbst was nicht für euch gemacht ist, ist eine kurze Erfahrung wert. Wenn nicht dieses Jahr, vielleicht ja im nächsten.